t e i l e n t r ä u m e n Sie steigt die Treppe zur U-Bahn hinunter. Im Tunnel steht der Akkordeonspieler, den grauen Morgen mit seiner Melodie erhellend. Sie verweilt. Lächelt. Wirft keine Münze. Legt eine Münze. Die Virtuosität wurde auf die Strassen geschickt… Lächeln oder Applaus? Gehalt oder Münze? Münze oder Lächeln? Jedwede Gabe ist Glück. Gedoppeltes. Dann trifft sie den Verkäufer der Obdachlosenzeitung, gefolgt vom jungen Mann, der nach zehn Cent fragt. Sie lässt kleine Münzen in traurige Hände wandern und steigt ein. Bald springen die Musiker vom Balkan hinzu. Sie versuchen, die Routine, die entnervten Blicke der Tagesspiegel-Leser, die Ignoranz der Headphone-Gehörnten zu überspielen. Zu überspielen mit ihrem inneren Rhythmus, der hier kein Zuhause findet. Eine Münze fällt in einen abgegriffenen Pappbecher. Beim Aussteigen begegnet sie wieder dem alten Mann, der, mit Plastiktüte und Taschenlampe ausgerüstet, die Mülleimer durchsucht. Er ist einer von vielen. Sie träumt davon, den Mann zum Kaffee einzuladen. Sie träumt davon, die Kaufhäuser zu stürmen, auszuräumen und alles auf alle Mülleimer der Stadt zu verteilen. Sie träumt davon, ein Sterntalerkleid zu tragen und einen Geldregen auf die Erde niedergehen zu lassen, bis jeder genug hätte vom falschen Gold und sich nur noch nach bunten Regentropfen sehnte… Die stillen Bettler am Rande der Straßen, die ruhelosen Sammler verwertbaren Abfalls – träumen Sie noch? Träumt ihr noch? Träumen wir noch davon, dass alles anders sein könnte?
g e b e n n e h m e n g e b e n Die Rolle des Bettlers hat im Orient eine lange Tradition und eine nicht unwichtige gesellschaftliche Funktion. Versehrte vor allem waren es, die sich ins soziale Gefüge nicht anders einordnen konnten, als durch Betteln, also öffentliches Bitten um Almosen – und dies durften, ja sollten. Diese Wohlfahrt wurde ihnen gewährt und dadurch erhöhten sich die Gebenden anderer Gesellschaftsschichten im sozialen wie religiösen Sinne. Die Bittenden wurden und werden gebraucht, weil sie die Gnade des Gebens möglich machen. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (Max Weber) der Ersten Welt schließt solche Art der Inklusion und Anerkennung längst aus. Aussätzige sind die Bittenden, sie haben weder Platz noch Rechtsanspruch in der neoliberalen Gesellschaft. Oder doch? Oder wieder? Mit der alle Schichten erfassenden Prekarisierung und Brutalisierung sind wir auf dem Weg zum „expandierenden Suppenküchenstaat“, wie der Armutsforscher Christoph Butterwegge prophezeit. Wir sitzen zwischen den Stühlen: Geben wir – subventionieren wir dann die zunehmende Armut oder tragen wir zur Rettung eines Menschen bei? Geben wir nichts – leisten wir Widerstand gegen die bedrohliche Entwicklung oder lassen wir einen Menschen in Not fallen? Was tun wir und was lassen wir besser, damit es anders werden könnte?
z a h l e n z ä h l e n Nach Angaben der UN leiden derzeit weltweit 868 Millionen Menschen an Hunger und Unterernährung. Demgegenüber wird weltweit rund ein Drittel aller für den menschlichen Verzehr produzierten Lebensmittel weggeworfen. Spitzenreiter der Verschwendung sind die Industrienationen. In Deutschland etwa landen Jahr für Jahr über 20 Millionen Tonnen Nahrung im Wert von ungefähr 25 Milliarden Euro auf dem Müll. Allein die ungenutzten Lebensmittel von Europa und Nordamerika würden ausreichen, um alle Hungernden auf der Welt zu versorgen. Wie würdevoll erscheint plötzlich Armut gegenüber dem hässlichen Konterfei des Wohlstandes und seiner Armseligkeit. Da klagt man auf Höchstniveau – doch sind wir nicht alle Bettler, wenn es um Sicherheiten geht?
f a l l e n Die von der Gesellschaft an den Rand Gespülten, ins Abseits Geschwemmten, niemals Eingeladenen haben augenscheinlich nichts. Nichts zu verlieren. Nichts, um be- oder gar geachtet zu werden. You are invisible now hat Nicola Rubinstein ihre den um Almosen Bittenden gewidmete, multimediale Serie genannt. Bei dem Titel handelt es sich um eine Zeile aus Bob Dylans 1965 geschriebenem Lied Like a Rolling Stone. Aus unsicher kritischer Distanz wird hier ein Fall verhandelt, die Geschichte eines Falles erzählt, dessen Story einen Verfall beschreibt. Der Fall vom Alles-Haben, Alles-Sein hin zum Nichts-Haben, Nichts-Sein. Der Liedtext wurde oft als tragische Lebenswendung einer Frau interpretiert, doch birgt er viel mehr als diesen einen Aspekt. Er beschreibt den Niedergang des Menschlichen in einer bourgeoisen Gesellschaft (Miss Amerika?) – und setzt jenen, die nichts haben, den Vagabunden, den Heimat-, Obdach- und Besitzlosen ein Denkmal. Der Landstreicher als Rolling Stone – so die Bedeutung im Originaltext in Referenz auf ein englisches Sprichwort – ist der Fels in der Brandung unserer gewissenlosen Geschäftigkeit, ist der sich lockernde Pflasterstein, ist Fortgang und Beständigkeit, Bewegung und Resistenz, social movement und Résistance... When you got nothing, you got nothing to lose You're invisible now, you got no secrets to conceal. (aus Bob Dylan, Like a Rolling Stone)
z u r ü c k h o l e n Die lebendigen Steine auf grauen, schmutzigen Straßen vor prächtig leblosen Betonfassaden, die Wege unseres Alltags flankierend, die Parade unseres Wohlstands abnehmend – sie bringen uns zum Stolpern! Sie sind unser Schatten, unser Spiegel, unser Soll und Haben. Wie gern würde der ästhetisch und moralisch auf Selektion geschulte Blick der Passanten sie ausblenden… Rubinsteins Aufnahmen von den so genannten Bettlern entstanden aus respektvoller Distanz, die der Empathie nicht entbehren muss. Die Fotografien montierte sie auf ebenfalls Entsorgtes – Materialien, die sie auf dem Müll fand und denen sie wieder einen Sinn verleiht. So werden als nutzlos befundene Holz- oder Metallplatten plötzlich zum hintergründigen Grund dafür, die Marginalisierten und Ausrangierten und mit ihnen tausend offene Fragen in unser Bewusstsein zurückzuholen… Rubinstein durchbricht mit You are invisible now den hermetischen Zirkel bürgerlicher Moral und Ästhetik und verlässt den Zirkus von Larmoyanz und Ignoranz.
s p i e g e l n Beten und Betteln treffen sich etymologisch im Bitten. Die Bettler sind Betende. Die Gebetshaltung von Rubinsteins Protagonisten wird zum Ausdruck einer unmittelbaren Demut dem Geschenk des Daseins, Lebens, Überlebens gegenüber. Sie werfen sich nicht auf den Boden, um die Umstehenden zu erhöhen. Gesenkte Köpfe, vermummt – frei von Scham – lassen Blicke des Hohns oder des Mitleids ins Leere laufen. Verweisen jene Gesten nicht vielmehr auf die uns alle Speisende, uns alle Verbindende – die Erde? Hier, auf kaltem Metall knien nun die Bittenden von Efeu umrankt, von farbigem Klebeband eingefasst. Der Efeu, das Sinnbild für Resistenz und Treue auch in Zeiten physischer oder sozialer Not erscheint hier als Negativform – ein Hinweis auf Fehlendes? Die Rahmen aus Tape für die Bittenden – eine Rubinsteinsche Verzweiflungstat, um ihnen wenigstens bildnerisch einen Halt zu geben? Hier, auf kühler metallener Oberfläche steht man plötzlich schemenhaft sich selbst gegenüber. Hier treffen sich die beiden Seiten der Medaille. Hier wendet Rubinstein die Blicke und führt sie zusammen. Noch im geringsten Licht vermischen sich die Schicksale. Diesseits und Jenseits einer von Besitz und Stand gezogenen Linie lösen sich auf. Kopf oder Zahl? Der Boden schwankt, wir werden uns im anderen gewahr. Denn es hätte auch ganz anders sein können.
v e r b i n d e n Etwas Ähnliches gelingt Rubinstein mit ihren die Bilder ergänzenden Videoarbeiten. Im 2013 entstandenen Film Bésame mucho trägt das Establishment Weihnachtsbäume und gute Gewissen in warme Stuben, während eine Frau in der Dezemberkälte des Berliner Mauerparks steht und versucht, mit froststarren Händen ihrer alten Geige die Melodie eines fernen Sommers, einer fernen Heimat, einer fernen Liebe zu entlocken. Bésame mucho – die einstige Arie der Nachtigall aus der Oper Goyescas des spanischen Komponisten Enrique Granados wurde 1941 von der mexikanischen Komponistin Consuelo Velázquez neu vertont und mit einem eigenen Text versehen. Seitdem ist es eines der meistgespielten und meistinterpretierten Liebeslieder der Welt. Wie zuvor die Erde, wird hier eine Melodie – in niemandes Besitz, deshalb im Besitz aller – zum verbindenden Element, das geographische oder soziale Barrieren sprengt. Man muss schon sehr viel Stumpfsinn aufbringen, um bar jeder Emotion oder Reaktion an dieser von ferner Wärme Spielenden vorbeizugehen. Man muss schon in großer Not sein, um sich von diesen vorüber ziehenden Winterlichen einen fallenden Groschen zu wünschen. Diese disparaten Existenzen dokumentiert Rubinstein in ihrem Kurzfilm zu Recht kommentarlos. Der Überlebenskampf und die Unsterblichkeit einer Melodie verbinden sich zum Ausdruck einer Hoffnung, dass doch alles anders sein könnte.
h i n u n d w e g s c h a u e n Herbst 2014, Kurfürstendamm, das westliche Zentrum von Berlins Konsummeile. Zwischen betuchten Flaneuren erscheint wie ein Fremdkörper, wie eine Märchengestalt aus Tausendundeiner Nacht ein über einem Teppich schwebender Bettelmönch. Er stört die saturierte Szenerie, schneidet eine Schneise der Entrüstung in den Strom der dem Konsumwahn Verfallenen. Viele schauen weg, schlagen verächtliche Bögen. Manche lachen, eine Würdigung der euphemistischen Phrase: Not macht erfinderisch? Wie schon Bésame mucho markiert auch dieser Film einen Unterschied zu den fotografischen Arbeiten Rubinsteins. Während die Protagonisten der Fotografien stumm verharren, führen sowohl die musizierende Roma-Frau als auch der unter seinem Mönchsgewand verborgene Roma-Jüngling etwas vor oder auf – sie erbringen eine performative Leistung. Handelt es sich hierbei um Straßentheater in der Tradition der einstigen Gaukler? Wird diese Art Kreativität bereitwilliger oder großzügiger belohnt als die Geduld der reglos Verharrenden? Gibt es einen Unterschied zwischen einem Theater aus Passion und Profession und einem Theater aus Not? Oder: Ist nicht das tagtägliche stundenlange Knien am Boden ebenso eine Performance, welche die unmittelbare Situation dieser Verzweifelten wahrhaftig darstellt? Wie viel Elend braucht es, so oder so, sich derart auszuliefern? Ob Rollenspiel, Geigenspiel oder das Bitten ohne Spiel: die sich performierende Armut wird geächtet, während der sich performierende Reichtum auf unseren Straßen bewundert und hofiert wird. Abermals kreiselt die Münze und zeigt uns die zwei Seiten eines lumpigen silbernen Dollars, verloren im Staub der Zeit, wie Marylin Monroe zur Szene singt.
e i n / a b / z u w e n d e n Arm, aber ohne Verlustangst, entblößt, aber frei – diesem Paradoxon begegnen wir in Dylans Song ebenso wie in Rubinsteins Serie. Auf die parabolischen Bilder von der Ironie des Schicksals antworten die Nachtigallen mit ihren Arien und plötzlich fällt Licht auf die allzu oft Übersehenen, Übergangenen. Dennoch: Birgt die künstlerische Bearbeitung der Problematik eine Lösung? Rubinsteins Serie ist keine Propaganda, kein Vorwurf, kein Euphemismus – sie wirkt eher wie eine subtile Sensibilisierung, wie der leise Zwang oder das sanfte Angebot, eine andere Perspektive zur Perspektivlosigkeit einzunehmen. Wenden wir uns zu. Um das Schlimmste abzuwenden. Rubinsteins Kunst der Mitteilung erzählt von der Kunst des Teilens.
Anke Paula Böttcher, 2012/2014