Black is for secrets

„Black is for secrets / Outlaws and dancers / For the poet of the dark“ singt Suzanne Vega in ihrem 2014 veröffentlichten Song I never wear white …

Nicola Rubinstein greift in ihrer neuen Serie großformatiger Bilder das Rebellische dieses Liedes auf und feiert in ihnen ein Fest der Farben. Gastgeber ist das Schwarz, von dem es im Deutschen leider keinen Plural gibt. Und es gibt in Rubinsteins Arbeiten auch keinen weißen Gegenspieler, es wird kein Wettkampf ausgetragen, sondern eben ein Fest gegeben. Rubinstein polarisiert nicht, sondern denkt und bildet das von uns oftmals als gegensätzlich Definierte zusammen: Erst durch die Anwesenheit von Schwarz erhalten die anderen Farben eine mitunter ekstatische Lebendigkeit, beginnen einen Tanz, an dem wir schauend, staunend teilhaben. Plötzlich fragt man sich, wie viele Klänge ein Schwarzton haben kann. „Selten war Schwarz so farbig“, sagte eine Betrachterin angesichts der Arbeiten von Rubinstein. Plötzlich befragt man das Schwarz. Im abendländischen Alltag mit Abwesenheit von Licht, mit Trauer oder auch dem zweckmäßigen Kleidercode bestimmter Milieus konnotiert, wird man ganz anderer Dimensionen gewahr: Das Dunkle ist ein Teil von uns, kein toter Tiefpunkt, sondern ein Weg des Innehaltens und Eingedenkens gegen alles Grelle und Oberflächliche. So wird auch in Rubinsteins Arbeiten das Sorglose nicht ausgeschlossen, noch wird das Besorgniserregende nivelliert. Ein dem Dunkel Ausgeliefertsein lehrt nicht nur Furcht, sondern gewährt zugleich Geborgenheit, eröffnet den schützenden Raum für Träume, Märchen und Rätsel … „Ihr wisst nicht“, schreibt Stanisław Lem 1984 in Also sprach Golem, „was mit einem Stern geschieht, der samt seinem Licht hinter dem Gravitationshorizont versinkt, denn die Physik führt euch nur bis an den Rand des Schwarzen Absturzes und hört dort auf.“ Dahinter reicht nur noch die Phantasie, unsere Phantasie – und wo die Physik endet, da beginnt die Malerei, dort beginnt Black is for the Secrets. Gleichsam ein Fest des Materials – Malerei, Collagen aus Gefundenem, Zeichnung bilden immer dynamische Schichtungen – gelingt der Künstlerin eine bildliche Konzentration, die unseren Blick bannt wie ihn immer tiefer wandern lässt. Nahezu intuitiv baut Rubinstein kosmisch anmutende Räume, rhythmische Landschaften und Figurationen, anarchische wie archaische Situationen. Die sie tragende Abstraktion sind hier keine Gesten der Verweigerung, vielmehr der Verweis aufs Viele, der Gang ins vielfach Mögliche. Dem Unsagbaren, dem nicht Darstellbaren, dem was ist, aber für das es keinen Begriff gibt, verleiht Rubinstein durch Farbe, Form und deren Zusammenspiel eine für uns erlebbare Präsenz. Und unsere Sinne beginnen zu tanzen, wir beginnen zu lesen in diesen Bildern und träumend zu verweilen im bunten Schatten des Rätselhaften … Black is for the Secrets – „It’s the shade and the shadow / It’s the depth into your eye“.

Anke Paula Böttcher

 

 

 

You are invisible now

Almosen für Nachtigallen


t e i l e n t r ä u m e n Sie steigt die Treppe zur U-Bahn hinunter. Im Tunnel steht der Akkordeonspieler, den grauen Morgen mit seiner Melodie erhellend. Sie verweilt. Lächelt. Wirft keine Münze. Legt eine Münze. Die Virtuosität wurde auf die Strassen geschickt… Lächeln oder Applaus? Gehalt oder Münze? Münze oder Lächeln? Jedwede Gabe ist Glück. Gedoppeltes. Dann trifft sie den Verkäufer der Obdachlosenzeitung, gefolgt vom jungen Mann, der nach zehn Cent fragt. Sie lässt kleine Münzen in traurige Hände wandern und steigt ein. Bald springen die Musiker vom Balkan hinzu. Sie versuchen, die Routine, die entnervten Blicke der Tagesspiegel-Leser, die Ignoranz der Headphone-Gehörnten zu überspielen. Zu überspielen mit ihrem inneren Rhythmus, der hier kein Zuhause findet. Eine Münze fällt in einen abgegriffenen Pappbecher. Beim Aussteigen begegnet sie wieder dem alten Mann, der, mit Plastiktüte und Taschenlampe ausgerüstet, die Mülleimer durchsucht. Er ist einer von vielen. Sie träumt davon, den Mann zum Kaffee einzuladen. Sie träumt davon, die Kaufhäuser zu stürmen, auszuräumen und alles auf alle Mülleimer der Stadt zu verteilen. Sie träumt davon, ein Sterntalerkleid zu tragen und einen Geldregen auf die Erde niedergehen zu lassen, bis jeder genug hätte vom falschen Gold und sich nur noch nach bunten Regentropfen sehnte… Die stillen Bettler am Rande der Straßen, die ruhelosen Sammler verwertbaren Abfalls – träumen Sie noch? Träumt ihr noch? Träumen wir noch davon, dass alles anders sein könnte?

g e b e n n e h m e n g e b e n Die Rolle des Bettlers hat im Orient eine lange Tradition und eine nicht unwichtige gesellschaftliche Funktion. Versehrte vor allem waren es, die sich ins soziale Gefüge nicht anders einordnen konnten, als durch Betteln, also öffentliches Bitten um Almosen – und dies durften, ja sollten. Diese Wohlfahrt wurde ihnen gewährt und dadurch erhöhten sich die Gebenden anderer Gesellschaftsschichten im sozialen wie religiösen Sinne. Die Bittenden wurden und werden gebraucht, weil sie die Gnade des Gebens möglich machen. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (Max Weber) der Ersten Welt schließt solche Art der Inklusion und Anerkennung längst aus. Aussätzige sind die Bittenden, sie haben weder Platz noch Rechtsanspruch in der neoliberalen Gesellschaft. Oder doch? Oder wieder? Mit der alle Schichten erfassenden Prekarisierung und Brutalisierung sind wir auf dem Weg zum „expandierenden Suppenküchenstaat“, wie der Armutsforscher Christoph Butterwegge prophezeit. Wir sitzen zwischen den Stühlen: Geben wir – subventionieren wir dann die zunehmende Armut oder tragen wir zur Rettung eines Menschen bei? Geben wir nichts – leisten wir Widerstand gegen die bedrohliche Entwicklung oder lassen wir einen Menschen in Not fallen? Was tun wir und was lassen wir besser, damit es anders werden könnte?

z a h l e n z ä h l e n Nach Angaben der UN leiden derzeit weltweit 868 Millionen Menschen an Hunger und Unterernährung. Demgegenüber wird weltweit rund ein Drittel aller für den menschlichen Verzehr produzierten Lebensmittel weggeworfen. Spitzenreiter der Verschwendung sind die Industrienationen. In Deutschland etwa landen Jahr für Jahr über 20 Millionen Tonnen Nahrung im Wert von ungefähr 25 Milliarden Euro auf dem Müll. Allein die ungenutzten Lebensmittel von Europa und Nordamerika würden ausreichen, um alle Hungernden auf der Welt zu versorgen. Wie würdevoll erscheint plötzlich Armut gegenüber dem hässlichen Konterfei des Wohlstandes und seiner Armseligkeit. Da klagt man auf Höchstniveau – doch sind wir nicht alle Bettler, wenn es um Sicherheiten geht?

f a l l e n Die von der Gesellschaft an den Rand Gespülten, ins Abseits Geschwemmten, niemals Eingeladenen haben augenscheinlich nichts. Nichts zu verlieren. Nichts, um be- oder gar geachtet zu werden. You are invisible now hat Nicola Rubinstein ihre den um Almosen Bittenden gewidmete, multimediale Serie genannt. Bei dem Titel handelt es sich um eine Zeile aus Bob Dylans 1965 geschriebenem Lied Like a Rolling Stone. Aus unsicher kritischer Distanz wird hier ein Fall verhandelt, die Geschichte eines Falles erzählt, dessen Story einen Verfall beschreibt. Der Fall vom Alles-Haben, Alles-Sein hin zum Nichts-Haben, Nichts-Sein. Der Liedtext wurde oft als tragische Lebenswendung einer Frau interpretiert, doch birgt er viel mehr als diesen einen Aspekt. Er beschreibt den Niedergang des Menschlichen in einer bourgeoisen Gesellschaft (Miss Amerika?) – und setzt jenen, die nichts haben, den Vagabunden, den Heimat-, Obdach- und Besitzlosen ein Denkmal. Der Landstreicher als Rolling Stone – so die Bedeutung im Originaltext in Referenz auf ein englisches Sprichwort – ist der Fels in der Brandung unserer gewissenlosen Geschäftigkeit, ist der sich lockernde Pflasterstein, ist Fortgang und Beständigkeit, Bewegung und Resistenz, social movement und Résistance... When you got nothing, you got nothing to lose You're invisible now, you got no secrets to conceal. (aus Bob Dylan, Like a Rolling Stone)

z u r ü c k h o l e n Die lebendigen Steine auf grauen, schmutzigen Straßen vor prächtig leblosen Betonfassaden, die Wege unseres Alltags flankierend, die Parade unseres Wohlstands abnehmend – sie bringen uns zum Stolpern! Sie sind unser Schatten, unser Spiegel, unser Soll und Haben. Wie gern würde der ästhetisch und moralisch auf Selektion geschulte Blick der Passanten sie ausblenden… Rubinsteins Aufnahmen von den so genannten Bettlern entstanden aus respektvoller Distanz, die der Empathie nicht entbehren muss. Die Fotografien montierte sie auf ebenfalls Entsorgtes – Materialien, die sie auf dem Müll fand und denen sie wieder einen Sinn verleiht. So werden als nutzlos befundene Holz- oder Metallplatten plötzlich zum hintergründigen Grund dafür, die Marginalisierten und Ausrangierten und mit ihnen tausend offene Fragen in unser Bewusstsein zurückzuholen… Rubinstein durchbricht mit You are invisible now den hermetischen Zirkel bürgerlicher Moral und Ästhetik und verlässt den Zirkus von Larmoyanz und Ignoranz.

s p i e g e l n Beten und Betteln treffen sich etymologisch im Bitten. Die Bettler sind Betende. Die Gebetshaltung von Rubinsteins Protagonisten wird zum Ausdruck einer unmittelbaren Demut dem Geschenk des Daseins, Lebens, Überlebens gegenüber. Sie werfen sich nicht auf den Boden, um die Umstehenden zu erhöhen. Gesenkte Köpfe, vermummt – frei von Scham – lassen Blicke des Hohns oder des Mitleids ins Leere laufen. Verweisen jene Gesten nicht vielmehr auf die uns alle Speisende, uns alle Verbindende – die Erde? Hier, auf kaltem Metall knien nun die Bittenden von Efeu umrankt, von farbigem Klebeband eingefasst. Der Efeu, das Sinnbild für Resistenz und Treue auch in Zeiten physischer oder sozialer Not erscheint hier als Negativform – ein Hinweis auf Fehlendes? Die Rahmen aus Tape für die Bittenden – eine Rubinsteinsche Verzweiflungstat, um ihnen wenigstens bildnerisch einen Halt zu geben? Hier, auf kühler metallener Oberfläche steht man plötzlich schemenhaft sich selbst gegenüber. Hier treffen sich die beiden Seiten der Medaille. Hier wendet Rubinstein die Blicke und führt sie zusammen. Noch im geringsten Licht vermischen sich die Schicksale. Diesseits und Jenseits einer von Besitz und Stand gezogenen Linie lösen sich auf. Kopf oder Zahl? Der Boden schwankt, wir werden uns im anderen gewahr. Denn es hätte auch ganz anders sein können.

v e r b i n d e n Etwas Ähnliches gelingt Rubinstein mit ihren die Bilder ergänzenden Videoarbeiten. Im 2013 entstandenen Film Bésame mucho trägt das Establishment Weihnachtsbäume und gute Gewissen in warme Stuben, während eine Frau in der Dezemberkälte des Berliner Mauerparks steht und versucht, mit froststarren Händen ihrer alten Geige die Melodie eines fernen Sommers, einer fernen Heimat, einer fernen Liebe zu entlocken. Bésame mucho – die einstige Arie der Nachtigall aus der Oper Goyescas des spanischen Komponisten Enrique Granados wurde 1941 von der mexikanischen Komponistin Consuelo Velázquez neu vertont und mit einem eigenen Text versehen. Seitdem ist es eines der meistgespielten und meistinterpretierten Liebeslieder der Welt. Wie zuvor die Erde, wird hier eine Melodie – in niemandes Besitz, deshalb im Besitz aller – zum verbindenden Element, das geographische oder soziale Barrieren sprengt. Man muss schon sehr viel Stumpfsinn aufbringen, um bar jeder Emotion oder Reaktion an dieser von ferner Wärme Spielenden vorbeizugehen. Man muss schon in großer Not sein, um sich von diesen vorüber ziehenden Winterlichen einen fallenden Groschen zu wünschen. Diese disparaten Existenzen dokumentiert Rubinstein in ihrem Kurzfilm zu Recht kommentarlos. Der Überlebenskampf und die Unsterblichkeit einer Melodie verbinden sich zum Ausdruck einer Hoffnung, dass doch alles anders sein könnte.

h i n u n d w e g s c h a u e n Herbst 2014, Kurfürstendamm, das westliche Zentrum von Berlins Konsummeile. Zwischen betuchten Flaneuren erscheint wie ein Fremdkörper, wie eine Märchengestalt aus Tausendundeiner Nacht ein über einem Teppich schwebender Bettelmönch. Er stört die saturierte Szenerie, schneidet eine Schneise der Entrüstung in den Strom der dem Konsumwahn Verfallenen. Viele schauen weg, schlagen verächtliche Bögen. Manche lachen, eine Würdigung der euphemistischen Phrase: Not macht erfinderisch? Wie schon Bésame mucho markiert auch dieser Film einen Unterschied zu den fotografischen Arbeiten Rubinsteins. Während die Protagonisten der Fotografien stumm verharren, führen sowohl die musizierende Roma-Frau als auch der unter seinem Mönchsgewand verborgene Roma-Jüngling etwas vor oder auf – sie erbringen eine performative Leistung. Handelt es sich hierbei um Straßentheater in der Tradition der einstigen Gaukler? Wird diese Art Kreativität bereitwilliger oder großzügiger belohnt als die Geduld der reglos Verharrenden? Gibt es einen Unterschied zwischen einem Theater aus Passion und Profession und einem Theater aus Not? Oder: Ist nicht das tagtägliche stundenlange Knien am Boden ebenso eine Performance, welche die unmittelbare Situation dieser Verzweifelten wahrhaftig darstellt? Wie viel Elend braucht es, so oder so, sich derart auszuliefern? Ob Rollenspiel, Geigenspiel oder das Bitten ohne Spiel: die sich performierende Armut wird geächtet, während der sich performierende Reichtum auf unseren Straßen bewundert und hofiert wird. Abermals kreiselt die Münze und zeigt uns die zwei Seiten eines lumpigen silbernen Dollars, verloren im Staub der Zeit, wie Marylin Monroe zur Szene singt.

e i n / a b / z u w e n d e n Arm, aber ohne Verlustangst, entblößt, aber frei – diesem Paradoxon begegnen wir in Dylans Song ebenso wie in Rubinsteins Serie. Auf die parabolischen Bilder von der Ironie des Schicksals antworten die Nachtigallen mit ihren Arien und plötzlich fällt Licht auf die allzu oft Übersehenen, Übergangenen. Dennoch: Birgt die künstlerische Bearbeitung der Problematik eine Lösung? Rubinsteins Serie ist keine Propaganda, kein Vorwurf, kein Euphemismus – sie wirkt eher wie eine subtile Sensibilisierung, wie der leise Zwang oder das sanfte Angebot, eine andere Perspektive zur Perspektivlosigkeit einzunehmen. Wenden wir uns zu. Um das Schlimmste abzuwenden. Rubinsteins Kunst der Mitteilung erzählt von der Kunst des Teilens.

Anke Paula Böttcher, 2012/2014 

Der Humor, welcher von Fundstücken gelegentlich ausgeht, ist zuweilen von lucider Beschaffenheit. Häufiger kann er, in einen neuen Kontext gestellt, auch enigmatisch und verschleiert sein. Das beides sich nicht ausschließt, macht die Kunst von Nicola Rubinstein augenfällig. Ihre Arbeiten mit Textilien oder fragilen Gegenständen als auch mit Alltagsgegenständen gewinnen mit dem Herausrücken aus gewohnten Gebrauchszusammenhängen eine eigentümliche Klarheit. Jedoch bewegt Nicola Rubinstein in ihrem Werk nicht nur federleichtes Material. Sie kombiniert auch mit Metall und Bildhauerstein. Das Ungefähre bekommt Gewicht und Kontur.

In der Zeit eines Studienaufenthaltes in Ägypten (20 ), einem Land vor der Arabellion aber schon unruhig, nahm sie auch Fundstücke einer Flaneurage durch Alexandrias Geschäftsstraßen auf. Ihr Blick, besser gesagt, auch ihre Fotokamera richtete sich hauptsächlich auf die Schaufenster von Bekleidungsgeschäften. Die meisten feilgebotenen Kleidungsstücke wirken recht modisch. Dass es sich nicht um Sichtangebote aus europäischen Großstädten handelt, wird schnell klar, wenn man die Häufung von Uniformen, von Kopfschleiern und gelegentliche arabische Schriftzeichen erkennt. Nicola Rubinstein wollte offensichtlich das Lokalkolorit nicht ausblenden, sondern zum Bestandteil der Wahrnehmung machen. Auch indirekt ist die orientalische Straße, hier mit ihrem besonderen mediterranen Licht, der Betriebsamkeit, den Geräuschen und Gerüchen erahnbar. Wie unter einem dämpfenden Vorhang. Die farbigen Blenden wirken wie waagerechte Vorhänge, die das Geschehen gleichzeitig abstrahieren, als auch zum Stillstand bringen. Wie Stills eines unbekannten Films. Ihre unterschiedliche Farbigkeit wirkt wie ein Kommentar zu den durch gegenständliche Bilder nicht wieder zu gebenden Gefühlen des Augenblicks. Die Triptychon-Form gibt dem Ganzen gleichzeitig eine sakrale Anmutung.
Alexandria, Ort der legendären antiken Bibliothek, erscheint in diesen Bildern als Sammlung von Spiegelungen. Diese wirken wie Schriften, die zu dechiffrieren sind. Wir suchen den Schlüssel in der Ikonografie des Rätselhaften. Wenn der Flaneur an ein Schaufenster tritt, das verspiegelt ist, was sieht er? Die innen liegenden Waren und das , was sie anpreist, sich selber (in der Regel als Schattenriss) und die Straße hinter sich. Diese simultane Wahrnehmung erhebt ihn (oder sie) je nach Temperament in einen Kaufrausch, eine Träumerei oder ein deja-vú . Der Kaufrausch als naheliegenste Reaktion setzt voraus, dass der Flaneur die Dinge im kapitalistischen Sinne besitzen will. Dann wäre es kein Flaneur oder Flaneurienne (oder wie Proust sie nennt, die „Passante“). Zu sehen, sich an den Kombinationen und an der Abwechslung ihres Materials zu erfreuen, die verschiedenen Perspektiven zu würdigen, scheint eher der Aufmerksamkeit wert. Das Künstliche und Maskenhafte ist interessant, weil es Erinnerungen weckt.

Die figürlichen Sichtzentren der Bilder sind in den meisten Fäller Schaufensterpuppen oder -köpfe. Sind diese Puppen eigentlich Tagwesen? Die Traditionen künstlerischer Schaufensterfotografie haben oft das Dämmerlicht oder die Nacht selber als Zeit gewählt. Die Verfremdung verstärkt sich im verschwimmenden Licht und in der Stille. Das stumme, durch das nächtliche Prag stapfende Geschöpf des Rabbi Judah Löw ist die Verkörperung dieser unheimlichen Fremdheit. Die Puppen auf den Bildern von Nicola Rubinstein stehen im hellsten Tageslicht. Die Melancholie eines durch Hitze und Turbulenz erschöpften Tages trifft auf ihre ungerührte Glätte. Sie ignorieren unseren schauenden Zugriff. Nichts kann sie zum Sprechen bringen. Das macht die Tagwesen ein wenig unheimlich. Ihre Vermischung mit den verschiedenen Spiegelebenen macht es einen Augenblick lang möglich, daß sie doch noch zum Leben erweckt werden und sich stumm und langsam unter den lebhaften Passanten dieses mittelmeerischen Tages bewegen. Stefan Raum 17. Juni 2014Die figürlichen Sichtzentren der Bilder sind in den meisten Fäller Schaufensterpuppen oder -köpfe. Sind diese Puppen eigentlich Tagwesen? Die Traditionen künstlerischer Schaufensterfotografie haben oft das Dämmerlicht oder die Nacht selber als Zeit gewählt. Die Verfremdung verstärkt sich im verschwimmenden Licht und in der Stille. Das stumme, durch das nächtliche Prag stapfende Geschöpf des Rabbi Judah Löw ist die Verkörperung dieser unheimlichen Fremdheit. Die Puppen auf den Bildern von Nicola Rubinstein stehen im hellsten Tageslicht. Die Melancholie eines durch Hitze und Turbulenz erschöpften Tages trifft auf ihre ungerührte Glätte. Sie ignorieren unseren schauenden Zugriff. Nichts kann sie zum Sprechen bringen. Das macht die Tagwesen ein wenig unheimlich. Ihre Vermischung mit den verschiedenen Spiegelebenen macht es einen Augenblick lang möglich, daß sie doch noch zum Leben erweckt werden und sich stumm und langsam unter den lebhaften Passanten dieses mittelmeerischen Tages bewegen.

Stefan Raum 17. Juni 2014

Die Berliner Künstlerin Nicola Rubinstein hat schon vor einigen Jahren die Fotografie als künstlerisches Medium für sich entdeckt. Seitdem sind ihr eine Reihe von Aufsehen erregenden Arbeiten gelungen, von denen "Larven" eine der jüngsten Serien ist. Die Künstlerin fotografierte Kinder, deren Gesichter durch Masken - Repliken historischer Masken aus dem 19. Jahrhundert - halb verdeckt sind. Einen ganz besonderen Reiz erhalten die Fotos durch den Kontrast des kindlichen Gesichts mit der eindringlich blickenden Maske. Die Betrachter werden hineingesogen in eine Welt voller Ernst, Nachdenklichkeit und Trauer. Diese Atmosphäre wird durch den Hintergrund verstärkt. Meist sind es Landschaften, aber gelegentlich auch Muster der Kleidung der Kinder, die die Künstlerin digital bearbeitet ins Bild integriert hat. Jedes Detail ist wohl erwogen und auf die Grundstimmung hin ausgesucht. Auch der Titel "Larven" ist im Deutschen vieldeutig: "Larven" bezeichnet nicht nur Gesichtsmasken sondern auch ein eigenständiges Entwicklungsstadium eines Tieres, z. B. Schmetterlings. Die Kultur des Maskierens, die im Leben der Menschen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts noch eine große gesellschaftliche Bedeutung hatte, ist in der europäischen Kultur unserer Zeit völlig verschwunden und vielleicht geht gerade deshalb von den maskierten Kindergesichtern diese geheimnisvolle, in ihrer Passivität anklagende Wirkung aus, die fasziniert und zugleich abstößt. Ängste vor dem Unbekannten, Undurchschaubaren, Verborgenen und trotz aller Unschuld Bedrohlichen werden wach. Die Fotografien von Nicola Rubinstein sind packend und der Wirklichkeit entrückt zugleich. Es ist schwer, sich der Wirkung zu entziehen. Die ernsten Gesichter der maskierten Kinder sind traurig anklagend, unerbittlich fragend, entrückt, als würden sie das Ende der Welt schon erblickt haben.

Barbara Barsch, Berlin

 

Nicola Rubinstein   LARVEN   

Diese Fotos von Kindern mit Masken geben dem Betrachter Rätsel auf. Eher ernst wirken ihre Gesichter bzw. das, was man von ihnen erkennen kann. Für den Betrachter ist es irritierend, wenn nicht verstörend, die Augen, die zu diesem Gesicht gehören, nicht zu sehen. Dadurch, dass sie hinter der Maske verborgen sind, wird die Bedeutung des Blicks für die Annäherung an die Individualität des Kindes noch verstärkt. Die Kinder, die die Künstlerin Nicola Rubinstein in ihrer Serie „Larven“ fotografierte, sind allesamt noch sehr jung, so jung, dass die Maske auch teilweise verbirgt, ob sich ein Mädchen oder ein Junge hinter ihr verbirgt. Aussagekräftiger ist da schon die Kleidung, manchmal auch die Art und Weise, wie das Kind seine Haare trägt. Geschlechtsspezifische Posen gibt es noch nicht. Der Körper ist leicht, die Schultern sind schmal, die Gesichter weich und irgendwie verletzlich. Man würde gerne erfahren, warum das eine Kind ausgerechnet diese Maske trägt und ein anderes Kind jene. Sich zu verkleiden oder zu maskieren ist für Kinder ein lehrreiches Vergnügen. Viele von ihnen schlüpfen gern in eine andere Haut, probieren sich im Spiel aus in wechselnden Rollen. Die Maske entfaltet in diesem Fall jedoch eine Wirkung, die sich unterscheidet von gewöhnlicher Verkleidung. Von ihrer Machart her hochgradig artifiziell, nehmen ihre starren Züge paradoxerweise dennoch den Ausdruck des sichtbaren Teils des Trägers an. Die Kombination einer fremden, eher erwachsenen Physiognomie mit dem kindlichen Gesicht lässt ein neues Mischwesen entstehen. Bei den Masken handelt es sich um Repliken historischer Vorlagen aus dem 19. Jahrhundert. Kulturgeschichtlich hatte die Maskerade damals – etwa im Rahmen von besonderen Festen – noch eine starke Bedeutung. Allerdings war das Tragen von Masken oder Larven eher eine Angelegenheit der Erwachsenen. Unter ihrem Schutz war es möglich, sich unerkannt unter seinesgleichen zu bewegen und anders als sonst zu verhalten. Unter dem Einfluss der Masken posieren auch die Kinder in diesen Bildern und probieren sich in neuen Rollen aus. In manchen Arbeiten der Serie fällt auf, dass sich das Muster des Kleidungsstücks im Hintergrund fortsetzt, so beispielsweise in dem Foto von Junko. In den analogen Bildern von 2005 hat die Künstlerin die Kinder in verschiedenen Landschaften fotografiert. Dadurch werden Anknüpfungspunkte an die klassische Portraittradition (Velazquez, Reynolds) oder die Romantik (Runge berühmtes Portrait von seinen Kindern im Garten) greifbar. Diese Fotografien werden innerlich gehalten durch Fragen aus der Sicht der Fotografin und des Betrachters, gerichtet jeweils an das Kind als Hauptmotiv. Durch die Inszenierung einer ambivalenten Bildrealität, die sich aus Anspielungen konfiguriert, erscheint die Situation im gewählten Ausschnitt konstruiert, ja artifiziell. Um die Larve als Leitmotiv dieser Serie auf symbolischer Ebene zu deuten, bieten sich als Assoziationsfeld für die Sinnbildlichkeit von Larven Momente des Übergangs und der Metamorphose an. Doch wird der Betrachter dieser Ansichten von Kindern mit seinen Fragen und Deutungsversuchen letztlich auf sich zurückgeworfen. Auch wenn alles nach Auflösung drängt und Entlarvung - diese Bilder verharren im Schwebezustand.

Almut Andreae  

Filigran und Fundarbeit

Bilder bewegen, dass heißt auch, das Material bewegen, aus dem diese Bilder sich zusammensetzen. Durch dieses Probieren, wie die Elemente zueinander passen, welche Wirkungen diese oder jene Konstellation aufeinander ausüben, wie sich eine Linie oder ein Flecken, eine Färbung oder ein zerraufter Umriss in dieser oder jener Umgebung verhalten, das alles erst schafft jene zweite Stufe in Bezug zur Wirklichkeit, die Kunst genannt wird. Nicola Rubinstein ist in diesem Sinne eine Bewegerin von Material. Wenn eingangs steht „Filigran und Fundarbeit“, dann bezeichnet das meines Erachtens zutreffend die beiden Spannungspole, in denen sich ihr Werk bewegt. Bei dem Material, welches sie verwendet, handelt es sich oft im ursprünglichen Sinne um Fundmaterial. Der suchende, aber nichts Bestimmtes ausspähende Blick ist das erste Stadium, in dem sie ihre Arbeiten schafft, also bevor sie ihr Atelier betritt. In diesem Entwicklungsprozess, welcher mikrosensible Räume hervorbringt, entstehen ihre Arbeiten...  Ebenso wie die Grafik spielen objets trouve in ihren anderen Ausdrucksmedien eine nicht weg zu denkende Rolle. Immer wieder sind es auch Textilien in ihrer Doppelbedeutung als Oberflächenstruktur und körperlicher Stofflichkeit, die sie verwendet...  

Stefan Raum